Folge 40: Wird man durch Trauer ein besserer Mensch?

 

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Ich habe ich mich in all den Jahren meiner Arbeit mit Hinterbliebenen gefragt, wie es kommt, dass mir dort so viele offene, reflektierte, mitfühlende und herzliche Personen begegnen, die ich als weit angenehmer empfinde als so manch unverwundeten Zeitgenossen. Oder sind es gar die besonders Freundlichen und Netten, denen so schlimme Schicksale widerfahren? Nichts dergleichen scheint plausibel. Das Schicksal ist nicht raffiniert bei der Wahl seiner Opfer: es kann jeden treffen, und die Trauer transformiert den Menschen auch nicht einfach zum Besseren.

Was soll das eigentlich sein: ein guter Mensch? Das ist eine spannende Frage, mit der sich Philosophie und Religion seit Jahrtausenden auseinandersetzen. Und in unserer alltäglichen Erfahrung erleben wir es doch immer wieder: es gibt Menschen, die wir für großartig und gut halten und andere sind für uns Deppen oder Vollidioten. Da bin ich natürlich lieber bei den edlen und guten Menschen, wer will schon gerne Depp sein? Die Bösen sind immer die anderen. Aus der Unterteilung in die „Guten“ und die „Schlechten“ ist im Laufe der Menschheitsgeschichte unfassbar viel Leid hervorgegangen. Diese Aufteilung, die uns übrigens täglich von unseren Politikern vorgelebt wird, mündet immer in Intoleranz und Ausgrenzung und ebnet den Weg dafür, sich über andere zu erheben und ihnen zum eigenen Vorteil Leid zuzufügen. Krieg, Gewalt und Zerstörung entstammen der Überzeugung, auf der Seite des Guten zu stehen und gegen die Bösen zu kämpfen. Die Bösen sind immer die anderen jenseits unserer Grenze.

Die Polarisierung zwischen Gut und Böse scheint also problematisch. Als ich als junger Mensch begann, darüber nachzudenken und mich selbst zu beobachten, kam ich unweigerlich zum schmerzhaften Schluss, dass in mir selbst die Möglichkeit zu allem wohnt, zum Guten wie zum Schlechten. Und über all die Jahre meines Lebens gab es viele Situationen, in denen ich mich nicht besonders „gut“ verhielt, sondern ein Depp war oder vielleicht sogar gemein und verletzend. Das ist bis heute so und darauf bin ich nicht stolz. Aber natürlich kann ich auch freundlich, mitfühlend, unterstützend und klug sein. Es ist, als gebe es viele Varianten meiner selbst, und je nach Situation rückt eine Variante stärker in den Vordergrund. Das ist wohl bei den meisten Menschen so, auch bei dir. Du kennst ja eine Menge Seiten an dir, die du nicht besonders gut findest, aber sie sind trotzdem da und du kannst sie nicht einfach beiseite wischen.

Wenn Menschen aufeinandertreffen, die schrecklichste Verlust erfahren mussten, dann geschieht oft etwas ganz Erstaunliches: Diese Menschen begegnen einander mit Mitgefühl, Offenheit und Herzlichkeit. Vielleicht hast du es selbst schon erfahren, wie gut es tut, in so eine Gemeinschaft eintauchen zu dürfen. Es fühlt sich an, als kämen viele ganz besonders gute und großartige Menschen zusammen. Aber ganz ehrlich: Es sind ganz normale Menschen, aber eben solche, die einen großen Verlust erlitten haben. Und sie sind nun auch nicht besser geworden durch den Verlust, aber diese Schicksalsgemeinschaft befähigt sie oft, die beste Variante ihrer selbst einzubringen: Aus Ihnen spricht Liebe, Wertschätzung, Großzügigkeit und Respekt. Das ist gar nicht selbstverständlich, denn gerade in der Trauer können sich viele selbst nicht mehr leiden. Vielleicht bist auch du deshalb gerne in der Gemeinschaft Trauernder, weil du dort wieder eine Variante deiner selbst spüren kannst, die dir wertvoll ist?

Horch in dich rein und achte auf die vielen Varianten deiner selbst. Wir können leider nicht immer frei wählen, wer wir heute sein möchten. Aber es gibt doch Wege, dem Teil deiner selbst mehr Raum zu geben, der dir und anderen guttut.

Probiere es einfach aus, du wirst sehen, du kannst es.

 
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Folge 39: Wenn dein Herzensmensch stirbt