Folge 48: Wandern zwischen den Welten
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In der ersten Zeit nach deinem schrecklichen Verlust konntest du dir nicht im Geringsten vorstellen, dass sich in deinem Leben wieder etwas normal anfühlen könnte. Und doch machen viele irgendwann die Erfahrung, dass sich vieles phasenweise tatsächlich wieder normal anfühlt. Anfangs schockiert dich das vielleicht, weil du nicht begreifen kannst, wie das möglich ist. Es kommt dir eventuell auch ein wenig wie Verrat an deinem geliebten verstorbenen Menschen vor, denn lange hattest du gedacht, deine Trauer um sie oder ihn würde für immer alles in deinem Leben überstrahlen. Und dann kann es sein, dass du wieder Dinge tust, die du lange nicht getan hast – dass du dich z. B. dabei ertappst, wie du vor dich hinsingst oder pfeifst. Mehr oder weniger unbewusst, so wie früher, wenn du gute Laune hattest. Du erschrickst, als du es bemerkst, hältst vielleicht inne und lauschst, ob dich jemand gehört haben könnte – als hättest du etwas Verbotenes getan.
Als wir uns das nächste Mal treffen, erzählst du mir beschämt davon. Ich lache und freue mich für dich. Wer würde dir denn das Singen verbieten wollen? Dein verstorbener Mensch ganz bestimmt nicht – im Gegenteil. Aber für dich ist es eine neue Erfahrung, und du musst dich erst daran gewöhnen, dass manches im Leben wieder anders wird. Dass das Leben nicht immer im Ausnahmezustand ist, sondern du sogar wieder so gut funktionieren kannst, dass andere dir kaum etwas anmerken. Du lernst, zwischen den Welten zu wandern. Besonders in der Arbeit gelingt das vielen Trauernden. Ihre Kompetenz ist nicht verloren gegangen. Und je mehr sie sich gestatten können, das zuzulassen, desto besser fühlt es sich für sie an.
Das heißt nicht, dass du nun zurückgekehrt bist in dein altes Leben. Es heißt vielmehr, dass du nun in mehreren Welten lebst. Denn die Welt deines Verlusts kann ja trotzdem in jedem Moment mit voller Wucht durchbrechen. Du sitzt im Auto und hörst Musik – ja, das kannst du wieder –, aber dann kommt genau dieser eine Song, der dich ins Mark trifft. Gerade hast du dich noch sicher gefühlt. Jetzt reißt es dir den Boden unter den Füßen weg. Würde dich jemand so sehen, er würde denken, du seist ein bisschen irre mit deinen Tränen und deiner Verlorenheit. Aber du bist nicht irre – du hast einfach nur überraschend die Welt gewechselt.
Nicht immer bist nur du es, der Mühe mit dem Begreifen und Sortieren von Realitäten hat. Oft sind es auch die anderen Menschen, wenn sie unvermittelt mit deinem Abgrund in Kontakt kommen.
Da hast du jemanden kennengelernt, beim Sport zum Beispiel. Eine nette Person, sie strahlt so eine Herzlichkeit aus, und ihr Humor erinnert dich an dich selbst in früheren Zeiten. Du beginnst, sie wirklich zu mögen, und manchmal geht ihr nach dem Sport noch zusammen etwas trinken. Ihr redet über harmlose Themen, witzig und nett. Ein Gespräch über deine Familiensituation konntest du bisher vermeiden. Aber dann fragt sie dich ganz direkt: „Du hast doch Kinder, erzähl doch mal …“
Und diesmal schaffst du es nicht, auszuweichen. Du magst die Person zu gerne. Jetzt wieder nichts zu sagen, wäre irgendwie falsch, unaufrichtig – beinah wie eine Lüge. Du selbst bist ganz gefasst und ruhig, aber du ahnst, was gleich passieren wird. Es ist, als hättest du eine Granate in der Hand und würdest jetzt die Sicherung lösen. Noch drei Sekunden. Jetzt: „Mein Kind ist leider gestorben.“
Du wolltest ihr nicht wehtun, aber es tut ihr weh. Sie starrt dich an, und ihre Augen füllen sich sofort mit Tränen. Sie stammelt etwas Unverständliches, und du versuchst, sie zu beruhigen. Immer wieder sagt sie dir, wie leid ihr das tut. So leid! Sie weint, und du tröstest sie. Verkehrte Welt? Nicht wirklich. Sie ist mit voller Wucht mit der Härte deiner Welt kollidiert. Das tut ihr sehr weh. Ihre abrupte Traurigkeit zeigt dir wieder, wie groß dein Verlust ist.
Für diesen Wechsel zwischen den Welten brauchst du ganz schön viel Kraft. Vor allem zu Beginn ist da immer wieder die Gefahr, dass du als Kosmonautin abstürzt. Dann musst du dich wieder mühsam aufrappeln. Ich wünsche dir, dass du mit der Zeit herausfindest, wie deine Reisen am besten gelingen.
Vielleicht kannst du dann sogar anderen helfen beim Wandern zwischen den Welten.