Folge 30: Selbstmitleid

 

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Selbstmitleidige Menschen gehen mir auf die Nerven. Sie jammern, wenn es am Wochenende regnet, und beklagen sich, wenn das Benzin 10 Cent teuer geworden wird. Sie bedauern sich dafür, dass sie so viele Steuern zahlen müssen und winseln, wenn sie den Zug verpassen. „Selbstmitleid“ ist ein meist negativ gebrauchter Begriff und beschreibt abfällig, wenn Menschen sich über das Schicksal beklagen und jammern. Selbstmitleidige Menschen haben die besondere Gabe, die Dinge um sich grundsätzlich als persönliche Benachteiligung zu werten. „Warum immer ich?“ Nur selten erleben sie Momente von Dankbarkeit. Ihr Jammern ist wirklich schwer zu ertragen.

Einige Monate nach dem Tod deines geliebten Menschen bist du in einer psychosomatischen Klinik und rufst du mich von dort an. Man hatte dir empfohlen, dort eine Zeit zu bleiben, um dich ein wenig zu stabilisieren. Du bist aufgeregt am Telefon und verunsichert, das merke ich sofort. „Mein Therapeut hier in der Klinik hat mich gefragt, wie lange ich mich noch in meinem Selbstmitleid wälzen möchte! Bin ich wirklich so selbstmitleidig?“ Ich bin schockiert über die Aussage des Kollegen und schüttle den Kopf. Du brauchst jetzt meine Einschätzung und ich gebe sie dir. „Natürlich hast du Mitleid mit dir selbst! Aber du bedauerst dich nicht grundlos, denn dein altes Leben wurde unwiederbringlich zerstört.“

Wenn man im Zentrum seines Seins einen existentiellen Verlust erfährt, kann man nicht einfach in sein altes Leben zurückkehren. Je stärker die Bindung, desto krasser die Verletzung der eigenen Identität. Diese Form von besonderer Bindung nennen wir Liebe. Liebe bedeutet, sich nicht nur über sich selbst zu definieren, sondern erst durch die andere Person zu dem zu werden, was wir sind. „Erst durch dich bin ich vollständig. Du bist ein Teil von mir und ich bin ein Teil von dir.“ Wenn dieser Teil vernichtet wird, geht etwas von dir selbst unrettbar verloren. Die Folge ist zunächst Schock und dann nach einiger Zeit ein tiefes herzzerreißendes Bedauern über den Verlust des bisherigen Lebens. „Warum? Warum nur ich? Warum musste der Tod ausgerechnet zu mir kommen?“ Diese Form des Selbstmitleids ist normal und vielleicht sogar notwendig, um die Dimension des Verlusts in Gänze zu realisieren. Auf Außenstehende ohne eigene Verlusterfahrung wirkt das oft übertrieben oder unangemessen. Einige finden, nach einer Zeit „müsse es auch mal wieder gut sein“. Aber „gut“ wird es nicht mehr. Gut hieße: wie vorher. Es kann nur anders werden und mit der Zeit auch „anders gut“. Aber das ist ein langer und mühsamer Prozess. Jeder und jede hat dabei einen eigenen Rhythmus, eine eigene Geschwindigkeit. Manche glauben, sie würden dabei nicht sich selbst bedauern, sondern den verstorbenen Menschen, der jetzt so vieles nicht mehr erleben könnte. „Nie wird sie studieren, nie heiraten, nie wird sie Mutter sein, mir tut all das so leid für sie.“

Ich sehe das anders. Der verstorbene Mensch hatte ein ganzes Leben voller Licht und Schatten, so wie jedes Leben. Wir erleben immer nur einen winzigen Ausschnitt aller denkbaren Möglichkeiten. War es deshalb ein schlechtes Leben? Sind wir sicher, dass die Verstorbenen gerne zurückkommen würden? Sterben werden wir alle, kann der Tod dann wirklich schlecht sein? Ich sage dir, was ich denke: Im Grunde bedauern wir uns immer selbst, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Über den verstorbenen Menschen müssen wir uns keine Sorge machen. Er ist nur vorausgegangen. Du dagegen hast das schwere Los, weiterleben zu müssen. Du bedauerst dich zurecht, denn du hattest dir deine Zukunft anders vorgestellt. Dein geliebter Mensch hätte darin einen wichtigen Platz haben sollen. Jetzt ist alles anders und du bist auf dem langen mühsamen Weg herauszufinden, wie dein Leben trotzdem lebenswert sein kann.

Zwischendurch hast du jedes Recht, dich zu bemitleiden!

 
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Folge 29: Warum ich tue, was ich tue