Folge 31: Unsere erste Begegnung

 

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Als dein Leben explodiert war, glaubten manche, du bräuchtest Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung deines unbeschreiblichen Verlusts. Deine eigene Hilflosigkeit ergriff die anderen und sie wussten nicht weiter. Sie sahen deine Verwundung und waren ratlos, was sie mit dir machen sollten. „Suche dir Hilfe!“, sagten sie und hofften, irgendwo gäbe es jemanden, der deine Trauer trösten könnte. Was du erleben musstest, war groß und natürlich hattest du jede Unterstützung der Welt verdient. Dein Verlust war so gewaltig, dass es zum Himmel schrie. Auch wenn du leise sprachst, dröhnte es in den Ohren der Feinfühligen. Du warst in Not, wie nie zuvor in deinem Leben. Deshalb schickten sie dich zu Spezialisten, damit dir geholfen würde. Und dann saßen wir beide uns gegenüber.

Ich öffne dir die Tür und stelle mich vor. Du bist befangen und ich auch, denn ich kenne dich noch nicht. Ich nehme deine Haltung wahr, deinen Gesichtsausdruck, deinen Gang, wie du den Raum betrittst und Platz nimmst. Du blickst dich um und musterst die Praxis. Ich habe keine Ahnung, was dir durch den Kopf geht. Dann wartest du, bis ich das Gespräch beginne. „Wollen Sie mir erzählen was passiert ist?“ Was für eine Frage. Eine bessere weiß ich nicht, ich versuche mich vorsichtig deiner Seele zu nähern, sitze aufmerksam da und sehe, wie du nach dem Punkt suchst, wo du beginnen könntest. „Vor zwei Monaten…“. Was jetzt kommt, ist dein Bericht über den unfassbaren Schrecken. Du blickst in die Ferne, als müsstest du dir die Einzelheiten der Geschichte langsam zusammensuchen. Hin und wieder schaust du zu mir und ich nicke dir zu, um dich zu ermutigen, weiterzuerzählen. Ab und zu stockst du und weinst. Ich schweige und nicke und gebe dir ein Taschentuch und du erzählst weiter. In dürren Worten berichtest du von dem Entsetzlichen, das über dich gekommen ist. Ich bin froh, dass du überhaupt Worte findest für das Geschehene, auch wenn ich spüre, dass es für dich noch unwirklich und fremd ist.

Das Sprechen über deinen Verlust strengt dich an. Ich frage dennoch nach und versuche zu verstehen. Was genau ist da passiert, wer war beteiligt, wer hat wie reagiert? Und dann erkläre ich, dass das Trauma der viel kleinere Berg ist als die Trauer, aber es ist unklar, ob du mir überhaupt folgen kannst, denn du bist aufgewühlt und in Gedanken. Wenn du zu mir kommst, ahnst du eigentlich schon, dass ich dir nicht wirklich helfen kann. Denn auch ich kann niemanden lebendig machen. Du selbst kannst nicht sagen, was du dir eigentlich von mir erhoffst. Du glaubst, es würde ab jetzt besser werden. Ich sage dir, wahrscheinlich würdest du jetzt erstmal abwärts wandern, wie alle, die einen geliebten Menschen verloren haben. Du bist überrascht und ich sage dir, das wäre normal, denn es sei ja ein sehr wichtiger Mensch gestorben und da bräuchtest du lange Zeit, um zu lernen, damit umzugehen. Da weinst du.

Ich frage ich dich, ob du in deiner Trauer von mit begleitet werden möchtest und du nickst.

Ich versuche dir zu beschreiben, was ich für dich tun kann und was nicht. Ich kann nicht versprechen, dass ich dir helfen kann. Hier, sage ich dir, ist Platz für deine Gefühle, deine Gedanken und deine Erinnerungen. Hier geht es um dich und die verstorbene Person. Mich musst du nicht schonen. Mein Job ist das Aushalten. Ich halte dich aus in deinem Schmerz und in deiner Ratlosigkeit. Hier hast du Zeit, nichts muss schnell gehen. Du machst die Dinge in deinem Tempo. Ich kann dir leider keinen Weg weisen, kann dir auch keinen Schmerz abnehmen. Aber du bekommst meine Aufmerksamkeit, meine Zuwendung und meine Ermutigung. Und sehr häufig werde ich dir sagen, dass du auf dem richtigen Weg bist.

Es ist dein Weg in dein neues Leben.

 
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Folge 30: Selbstmitleid