Folge 20: Mitleid und Mitgefühl

 

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Als das Unglück über dich hereinbrach, hat es viele andere Menschen bewegt. Sie hörten, was passiert war und konnten es nicht fassen. Sie weinten, sie zeigten ihr Mitgefühl und den meisten von euch tat es gut, dass damals so viele andere ihren Schmerz zum Ausdruck brachten. Das war in den Stunden, Tagen und Wochen nach dem Verlust. Die Trauerfeier war würdevoll, vielleicht sogar schön und die große Zahl der Teilnehmenden dokumentierte, dass es vielen wirklich zu Herzen ging, dass hier ein lieber Mensch gestorben war. Die Beisetzung war geprägt vom Gefühl, eng begleitet zu werden von der wärmenden Anteilnahme der anderen. So schrecklich der Verlust auch gewesen sein mochte, so außergewöhnlich schien nun die Verbundenheit im Abschied.

Dieses Gefühl des Getragenwerdens hält meist nicht lange. Die anderen kehren in ihr unversehrtes Leben zurück, du dagegen lernst nun langsam und mühevoll, dass es wahr ist: dein geliebter Mensch ist gestorben. Für dich wird der Verlust zu einer jahrelangen Herausforderung, während die anderen ihr Leben mehr oder minder unverändert fortsetzen. Dieser krasse Bruch zwischen deiner Existenz und dem Leben der anderen läutet manchmal das Ende von Freundschaften ein. Zu unterschiedlich scheinen die Lebenswelten, als dass es noch gelingen könnte, Gemeinsamkeit zu finden. Wer auch nach vielen Wochen noch von Menschen umgeben ist, die fähig zu echtem Mitgefühl sind, kann sich glücklich schätzen. Das ist eine unfassbar große Hilfe gegen die Einsamkeit der Trauer. Im Grunde bräuchten alle solche Freunde, die auch nach Monaten nicht das Weite suchen, wenn die Sehnsucht in dir tobt. Was sie verkörpern, sind tiefes Mitgefühl und echte Zuwendung.

Was du dagegen nicht brauchst, ist Mitleid. Niemand soll aus Mitleid zu dir kommen, dich aus Mitleid einladen, dir aus Mitleid etwas schenken, mit dir aus Mitleid etwas unternehmen. Im Mitleid erhebt sich der andere über dich, Mitleid macht dich klein und erniedrigt dich. Mitleid setzt in schlechter Weise eine Unterscheidung, sie macht dich zum Opfer und den anderen zum Wohltäter. Das geschieht nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hilflosigkeit. Die Ahnungslosen möchten einfach, dass du wieder funktionierst. Deine entferntere Familie, deine Bekannten, deine Kollegen, deine Chefin, all die Menschen, die sich nie damit auseinandersetzen wollten und mussten, was es heißt, wenn ein Teil deiner Identität aus dir herausgeschnitten wurde. Sie verstehen nicht, warum du nun nicht mehr die gleiche Person sein kannst wie früher. Wenn du versuchst, es ihnen zu erklären, scheiterst du meist kläglich und bekommst Unverständnis oder Mitleid. Oder sie trösten dich und machen deinen Verlust klein, indem sie behaupten, bald würde alles besser werden.

Anfangs denkst du, eigentlich müsste doch jeder verstehen, was es bedeutet, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist. Du lernst schmerzhaft, dass die meisten keine Ahnung haben. Ich sehe, dass dich die Ignoranz der Welt empört, aber kämpfe nicht um das Verständnis der Ahnungslosen, sondern geh auf diejenigen zu, die voll Mitgefühl für dich sind. Ganz häufig findest du es bei Menschen, die ein ähnliches Schicksal durchleiden mussten. Zwischen euch braucht es nicht viele Worte, denn ihr kennt die Abgründe, die der Verlust nach sich zieht. Deshalb tut es so gut, immer wieder unter Menschen zu sein, die selbst Verlust erlebt haben. Sie geben dir Kraft und Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein, sie machen dir Mut, nicht aufzugeben.

Wenn du es willst, findest du diese Menschen.

 
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