Folge 19: Entscheide dich für dein Leben

 

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Wenn ich an dich denke, kurz nach deinem unfassbaren Verlust, dann sehe ich eine Silhouette von Tapferkeit. Du hast damals weiter geatmet, obwohl manche dachten, jetzt würdest auch du sterben. Du bist nicht gestorben, sondern trugst deinen Kopf oben, trotz deiner Wunde. Es dauerte dann viele Monate, bis du dich langsam reingetastet hattest in dein neues Leben. Bis du allmählich begannst zu begreifen, dass der Tod wirklich und unumkehrbar in dein Leben getreten war. Die Welt um dich herum drehte sich weiter, als sei nichts gewesen. Das Leben der andern ging weiter, als sei nichts gewesen. Nur dein Leben fühlte sich zerstört an. Und du hasstest dieses Leben, das du dir nie gewünscht hattest und du warst ohne jede Ahnung, wohin und wozu du weiterleben solltest.

Alles Vertraute schien nun unvertraut und die einzig standhaften Gefährten waren deine Sehnsucht und dein Schmerz. Ich sah, wie du littest und doch gab es einen Teil in dir, der es so wollte. Du wolltest es hautnah spüren und fühltest dich schlecht, wenn der Schmerz fort war. Es schien dir falsch und leer. Meine Bitte, dass du dir Pausen von deinen Qualen erlauben müsstest, war für dich schwierig. Es wäre wie Verrat, als hätte es nie eine echte Liebe zwischen euch gegeben, wenn du dich jetzt in Unbeschwertheit üben würdest. Das ist der Grund, warum es dir so lange schwerfiel, dir Gutes zu tun. Warum du glaubtest, nie mehr genießen zu dürfen. Jeder Genuss war so hohl und leer angesichts der Tatsache, dass dein einzig echter Wunsch nur darin bestand, dem geliebten verstorbenen Menschen nah zu sein.

Mit den Monaten hast du gesehen, wie dein Verlust für die anderen immer mehr zu etwas wurde, das nun der Vergangenheit angehörte. Es war einmal gewesen, damals vor langer Zeit, und es war wirklich traurig, aber jetzt war es vorbei. Nur nicht für dich. Für dich war es gar nicht vorbei, im Gegenteil stachelte dich die Ignoranz der Welt an, umso treuer die Nähe zum Verstorbenen zu suchen. Deine Liebe sollte nicht sterben. Von außen sah es wie ein verzehrendes unglückliches Verliebtsein aus, so als würden dir all die anderen Menschen und Dinge deines Lebens gar nichts mehr bedeuten. Als gäbe es nur diese eine Person, an die du dich verzweifelt klammern wolltest, obwohl sie schon vor Monaten gestorben war. Und manchmal konntest du eine Stimme wahrnehmen, die dir zuflüsterte, dass es am besten wäre, wenn du jetzt auch stürbest. Jetzt wo doch alle dachten, es müsste bergauf gehen.

Nicht alle erleben so und kommen an diesen Punkt. Aber für viele ist es vertrautes Terrain. Vertraut und gefährlich, denn wenn du hier nicht auf dich aufpasst, entgleitet dir dein Leben. An diesem Punkt musstest du lernen, dich zu entscheiden. Dich für dich selbst zu entscheiden. Wenn du dich für den verstorbenen Menschen entscheidest, dann stirbst du mit. Du musst dich losreißen aus dem Sog, der dich selbst in den Abgrund zieht. Erlaube dir den Blick abzuwenden, starre nicht auf deinen Verlust. Wer jemanden verloren hat, möchte festhalten, was nicht festzuhalten ist. Du musst lernen, diesen Teil deiner Hingabe loszulassen, sonst gehst du unter. Es ist fast wie bei einem Abhängigen, der lernen muss, sich gegen die Droge zu entscheiden.

Erlaube dir, dass Gutes geschehen darf. Nur wenn du es dir zugestehst, kann es eintreten. Es geht nicht darum, die verstorbene Person aus deinem Leben zu verbannen. Sie wird immer Teil von dir bleiben. Aber das tut sie auch, wenn du nicht ständig an sie denkst. Lerne ihr einen angemessenen Platz zu geben. Angemessen heißt: nicht wichtiger als alles andere. Wichtig bist du und für dich kann es nur eine Zukunft geben, wenn du das willst.

Entscheide dich für dein Leben.

 
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