Folge 18: Böse Gedanken
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Manche Menschen behaupten, alles im Leben gleiche sich irgendwann aus. Als gäbe es eine Gesamtbilanz, bei der positive und negative Werte miteinander verrechnet würden. Demzufolge wäre dann das Leben letztendlich immer gerecht, weil alles gegeneinander aufgewogen wird. Auch in unserem christlich-abendländischen Denken hat diese Betrachtungsweise eine lange Tradition. Geistliche predigten über Jahrhunderte, das Unheil in der Welt entspränge unseren „Missetaten“. Niemand müsse sich wundern, wenn ihm Böses widerfährt, sondern er solle sich fragen, wo er gesündigt habe.
Für dich ist dieser Gedanke ein frontaler Angriff. Warum wurden gerade du, dein Kind oder dein Partner bestraft? Für was sollte das die Quittung sein? Was hast du falsch gemacht, dass du und die Deinen so etwas erleiden mussten? Es fühlt sich wie eine furchtbare Bestrafung an, die in dein Leben reinfährt wie ein scharfes Messer. Und es fühlt sich maßlos ungerecht an. Warum trifft es gerade euch? Da draußen sind so viele Menschen, die nichts zu erleiden haben, egal wie gemein und hässlich, wie egoistisch und brutal sie ihr Leben führen. Und dein geliebter Mensch hatte nichts von alledem und musste trotzdem sterben. Wie kann das Leben so unfassbar ungerecht sein?
Schon immer ist es so gewesen, dass sich auf dieser Welt schreckliches Unheil ereignet hat. Nur dass es bisher und lange Zeit nicht bei dir war, sondern woanders. Weit weg, nicht in deinem Leben, meist auch nicht in deinem Blickfeld und wenn doch, hattest du gelernt wegzuschauen. Wie auch ich, wie wir alle. Kein Mensch hält das aus, sich ständig mit dem Unglück anderer zu befassen. Also schieben wir es zur Seite, und atmen tief durch. Doch diesmal ist das Unglück zu dir gekommen. Ohne Einladung, ohne Erlaubnis hat es dein Leben berührt.
Dass es dich trifft und nicht die anderen, macht es besonders schwer, denn du bist allein. Warum dann gerade du? Schicksal oder Zufall, Karma oder Willkür? Es gibt darauf keine Antwort. Aber es macht wütend, denn die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel. Wütend auf Gott, auf das Schicksal, auf dich selbst, auf den Verstorbenen, auf die Ärzte, auf die anderen, die keinen Verlust erlitten haben. In deinem Schmerz und deiner Isolation tobst du manchmal wie ein verwundetes Tier, das um sich beißen will. Das gereizt ist und voller Zorn, angesichts der scheinbar heilen Welt um sich herum.
Und so kommt es vor, dass du böse Gedanken hast. Du selbst nennst sie böse und erzählst mir, wie du manchmal Erleichterung spürst, wenn ein anderer Mensch eine Krankheit nicht überlebt. Wenn du hörst, dass jemand, der mit dem Krebs rang, inzwischen auch gestorben ist. Du freust dich nicht darüber, du zeigst auch niemandem deine Genugtuung, du schämst dich insgeheim, denn du kennst das Leid, das nun die anderen überrollt. Und trotzdem hast du manchmal solch „böse“ Gedanken. Bist du ein schlechter Mensch? Nicht schlechter als ich. Nur verwundet und einsam. Wenn ein anderer Mensch das Gleiche erleidet, bist du weniger allein mit deinem Unglück. Ganz viele kennen insgeheim solche Gedanken.
Wenn ich dich dann frage, ob du die Familie unterstützen kannst, die gerade vom Unglück getroffen wurde, sagst du sofort ja. Es kommt von Herzen, das merke ich und dein Mitgefühl für die anderen ist echt. Ohne zu zögern bist du bereit zu helfen. Trotzdem leben in uns auch Neid und Eifersucht. Und manchmal auch böse Gedanken. Es gibt keinen Grund, dich dafür zu verurteilen.
Dadurch bist du noch längst kein böser Mensch.