Folge 36: Leben im Gravitationsfeld

 

Hören

 

Du kommst zu mir und sagst, du würdest noch immer nicht verstehen, wie all das Schreckliche geschehen konnte. Wieso der Tod so ungerecht in dein Leben einbrach, und alles verwüstete. „Warum?“, fragst du mich und ich habe keine Antwort. Wie sollte ich es wissen? Ich lebe genauso wie du im Gravitationsfeld des Lebens. Gravitation meint eigentlich die physikalische Kraft, die zwischen Massen wirkt. Auf der Erde erfahren wir sie als Schwerkraft. Die Erde zieht unseren Körper an und im Gegensatz zu anderen physikalischen Kräften wirkt sie immer auf uns. Mit Gravitation des Lebens meine ich, dass wir immer nur Mensch sind, solange wir leben. Wir Menschen haben zwar unseren Verstand, der uns befähigt bis zum Mars zu fliegen. Aber über die wesentlichen Dinge wissen wir nichts. Was ist der Tod? Wo kommen wir her? Der Gravitation des Lebens ausgesetzt zu sein, bedeutet ständig an Grenzen zu stoßen und für viele Dinge blind zu sein. Statt zu erkennen, mühen wir uns täglich mit all den Ängsten und Begierden des Lebens ab. Unsere Verzagtheit droht uns zu lähmen und furchtsam verbergen wir den Blick vor dem Lauf der Dinge. Wir strengen uns fruchtbar an und schützen uns vor Gefahren, um dann am Ende doch zu sterben. Die einen früher, die anderen später. Warum, wissen wir nicht. Was ist der Sinn von alledem? Wir werden es nie wissen, solange wir selbst in der Gravitation des Lebens gefangen sind.

Es ist in meinen Augen nicht möglich, die großen existentiellen Fragen mit Hilfe unseres Verstandes zu lösen. Und dazu gehört auch die Frage, warum dein geliebter Mensch gestorben ist. Wir versuchen Antworten zu geben, in denen eventuell ein Unfallhergang rekonstruiert oder das Voranschreiten einer bösartigen Krankheit beschreiben wird. Aber das erklärt letztlich nicht, warum es gerade bei euch geschehen ist und bei anderen nicht. Es erklärt letztlich nichts. In meinem eigenen Leben gab es mehrere Situationen, die - im Nachhinein betrachtet - sehr gefährlich waren. Ich bin beispielsweise am Steuer meines Autos eingeschlafen. War es einfach Glück, dass ich an genau der Stelle eingeschlafen bin, wo die Autobahn eine Leitplanke hatte und nicht wenige hundert Meter später, wo kilometerlang keine Absperrung war und ich ungebremst in den Wald gefahren wäre? Warum ist der Tod nicht zu mir gekommen? Und warum kommt er zu anderen? Wir wissen es nicht. Manchmal sage ich dir, dass wir es vielleicht wissen werden, wenn wir selbst aus der Gravitation des Lebens heraustreten, also dann, wenn wir sterben. Das hoffe ich zumindest.

Und dann fragst du mich zu hundertsten Mal, was du falsch gemacht hättest. Und wie immer sage ich dir, dass ich es nicht sehen kann. Dass ich ähnlich gehandelt hätte wir du. Stellen wir uns vor, es gäbe einen Zauber und dein geliebter verstorbener Mensch käme jetzt ein letztes Mal zurück und wir würden genau diese Frage stellen: „Warum bist du gestorben?“ Was meinst du, würde er antworten? „Weil du mich nicht genug geliebt hast“, oder „Weil du nicht auf mich aufgepasst hast“? Das glaube ich nicht. Er, der im Gegensatz zu uns aus der Gravitation herausgetreten ist, würde dich anlächeln. „Ich kann dir nicht erklären, warum ich gestorben bin, denn du würdest es nicht verstehen. Aber mach dir keine Sorgen um mich, sorge dich um dich selbst, denn ich bin gestorben, du aber wirst noch weiterleben.“

„Und woher willst du wissen, dass es so ist, wie du sagst?“, fragst du mich. „Ich weiß es nicht. Aber ich stelle es mir einfach so vor, denn dieses Bild nimmt mir die Angst und gibt mir Zuversicht“. Du blickst mich zweifelnd an und wir schweigen. Trau dich, gute Gedanken zu denken. Nimm die stärkenden Bilder in dich auf. Ich werde nicht müde es dir zu sagen:

Sei freundlich und verzeihend zu dir selbst!

 
Weiter
Weiter

Folge 35: Der Schmerz der Geschwister