Folge 51: Gott sei Dank, sie ist drüber weg!

 

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„Ich kann mir so gut vorstellen, wie es dir geht!“ Hat dir das auch schon mal jemand gesagt? Oder auch Äußerungen wie: „Du bist so stark, so tapfer, ich bewundere dich“, oder: „Ich glaube, ich würde das nicht aushalten.“ Manche fragten dich auch: „Kannst du schon loslassen?“ oder: „Geht’s dir wieder besser?“ Jeder dieser Sätze bestätigt ein grundlegendes Missverständnis zwischen dir und den anderen. Immer wieder machst du die Erfahrung, dass andere dir Dinge sagen, die deutlich zeigen, wie wenig sie von deiner Lebenssituation erfasst haben.

„Kannst du schon loslassen?“ – das ist eine nicht unübliche Frage vier Monate, manchmal auch schon vier Wochen nach dem Tod deines geliebten Menschen. Im Zweifelsfall ist dies Ausdruck von Ignoranz oder Hilflosigkeit. Die anderen können nicht ansatzweise erfassen, was sich in deinem Leben ereignet hat, aber sie wollen dir so gerne etwas Tröstliches und Ermutigendes sagen: „Wer weiß, wofür es gut ist?“, „Du musst jetzt nach vorne blicken“, „Du darfst dich da jetzt nicht reinsteigern“, „Du musst es akzeptieren“, „Tu dir was Gutes und fahr jetzt einfach mal in den Urlaub“, „Du musst auch wollen, dass es dir besser geht“, „Versuche einfach mal wieder zu lachen.“

Auch du kennst wahrscheinlich solche abstrusen Äußerungen. Wenn wir darüber reden, musst du manchmal herzlich lachen – so absurd wirken sie angesichts deiner Situation. Aber sie sind im Grunde immer gut gemeint und sollen dich unterstützen auf deinem Weg. Wie kann jemand aus der wohligen Geborgenheit des eigenen Lebens heraus behaupten, er könne sich vorstellen, wie es dir geht? Dies zu sagen, ist eine Anmaßung und verkennt die Größe deines Verlusts.

Wenn jemand wirklich etwas von dem erfasst, was in dir vorgeht, dann sind es andere Menschen, denen sehr Ähnliches widerfahren ist. Doch auch deren Leid ist anders, denn jeder Verlust ist einzigartig. Für die meisten Unverwundeten, deren vermeintlich heiles Leben du manchmal neidisch beobachtest, ist deine Erlebniswelt völlig außerhalb des Erfahrbaren.

Natürlich waren sie erschüttert über deinen Verlust und haben sogar geweint, als das Schreckliche über dich gekommen ist. Aber es hat ihr Leben im Kern nicht unumkehrbar zerrüttet. Vielleicht spürten sie ein leichtes Beben der Erde, das für einen Moment oder sogar für Tage ihr Denken und Fühlen bestimmte. Aber nach einer kurzen Zeit der Trauer und Anteilnahme sind sie wieder in die Unversehrtheit des eigenen Lebens zurückgekehrt. Niemand kann es ihnen verdenken – und auch du hättest nicht anders gehandelt, wenn dir früher das Leid der anderen begegnet wäre. Selbstverständlich leben sie mehr oder weniger unbeschwert weiter, denn der verstorbene Mensch hatte für ihr Leben keine überragende Bedeutung. Noch immer sind sie betrübt, wenn sie zurückdenken an die Zeit des Verlusts, aber für sie ist es Vergangenheit. Sie haben es akzeptiert, sie blicken nach vorne, und sie haben losgelassen. Es geht ihnen wieder gut – völlig normal, denn es war ja nicht ihr Herzensmensch, der da gestorben ist.

Leider verwechseln sie ihr eigenes Erleben oft mit deinem. Sie meinen, auch du könntest wieder in die Leichtigkeit des Seins zurückkehren. Und manchmal wirkst auch du fröhlich. Dann lächelst du oder lachst sogar über einen Witz, und man sieht dir dein tiefes Leid gar nicht mehr an. Und sie denken: Gott sei Dank, sie ist drüber weg! Das ist ein Missverständnis, aber aus ihrem Blickwinkel ist das nachvollziehbar. Die Größe deines Verlustes und die Tiefe deines Leids sind jenseits all dessen, was sie je erlebt haben. Das kann dich verletzen oder auch ärgern. Wenn du zornig versuchst, ihnen zu erklären, wie falsch ihre Einschätzung ist, blicken sie dich hilflos an und schweigen. Oder sie versuchen, sich zu rechtfertigen. Und du merkst, wie schwer es ist, auszudrücken, worum es dir geht. Wahrscheinlich ist dieses Ringen um Verständnis oft sinnlos – und danach denkst du: Hätte ich doch nichts gesagt! Manchmal aber musst du wohl in diese quälende Auseinandersetzung gehen, musst dich mühsam erklären, weil deine Freundschaft nicht kaputtgehen soll.

Aber „Drüber-Weg-Sein“ wirst du niemals.

 
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