Folge 52: Alles ist immer da

 

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Du erinnerst dich: Am Anfang, kurz nach deinem Verlust, schien alles in dir ein einziger großer Schmerz zu sein. Alles war verändert, obwohl doch alles gleich war. Die Sonne ging morgens auf und abends unter, und hätte ein Fremder von außen deine Handlungen im Lauf eines Tages beobachten können, wäre ihm nicht viel aufgefallen. Viele Abläufe deines Lebens funktionierten scheinbar weiterhin. Aber für dich war trotzdem alles anders, denn der unsägliche Verlust war dein ständiger Gefährte. Schmerz, Verzweiflung, Wut, Leere, Sehnsucht, Erschöpfung, Tränen, Schmerz. Das war die Melodie deines damaligen Lebens. Mal lauter, mal leiser, aber stets gegenwärtig, egal was auch immer du tatst. Das war die schwere akute Trauer, und es hatte seine Richtigkeit, dass du sie voll erfuhrst.

Auch wenn du damals glaubtest, dass die Zeit stehen geblieben wäre und sich dieser Zustand nie mehr verändern könnte, ist doch immer alles in Veränderung. Auch deine Trauer. Dein Verlust lag anfangs klar, blank und fürchterlich vor dir, und doch setzt sich auch auf dieses Erleben mit den Wochen, Monaten und Jahren eine zunächst kaum wahrnehmbare neue Erfahrung. Stelle es dir vor wie den Grund des Meeres über die Jahrmillionen. Der Boden des Ozeans ist dein Verlust, und über all die Jahre bilden sich langsam neue Sedimentschichten, die die älteren Ereignisse überdecken und scheinbar unkenntlich machen. Blickt ein Taucher auf den Grund, sieht er immer nur eine kurze Momentaufnahme. So wie ein Fremder, den du zufällig im Urlaub kennenlernst und der nichts von deinem Verlust weiß. Die in deinen Tiefen verborgene Erfahrung ist für ihn nicht erkennbar, heiter spricht er dich an und in der Ungezwungenheit eures Plauderns merkst du, dass du auf die andere Person völlig normal wirkst. Anfangs ist das bizarr, denn du selbst trägt den Verlust direkt unter deiner Haut. Aber die Begegnung ist auch wohltuend, wie eine frische Brise, und für Momente trägt sie dich fort. Das geht im Urlaub, aber auch zuhause. Es ist die Erfahrung, dass das Leben sich gut anfühlen kann. Du bist also immer noch da.

Mit den Jahren intensiviert sich diese Erfahrung. Dein Sein ist jetzt nicht mehr nur Schmerz. Du lebst wieder in einer Vielfalt des Lebens und da gibt es auch gute Erfahrungen und Begegnungen. Das heißt nicht, dass alles wieder gut wäre, denn der Verlust ist ja unumkehrbar und dein neues Leben ist nicht das gleiche wie früher. Aber es bedeutet doch, dass du gelernt hast zu akzeptieren, dass sich dein Leben wandelt und die Gegenwart von dir immer wieder neue Antworten verlangt. Dass du deinen Verlust auch zur Seite legen darfst, von Zeit zu Zeit, immer wieder, oft.

Für manche Trauernde ist das schwer zu ertragen. Die Abkehr vom Dauerschmerz fällt ihnen nicht leicht. Es ist, als versuchten sie jeden Tag den Grund des Meeres mit einem riesigen Besen freizukehren, damit sich über die Verlusterfahrung nicht Neues legen kann. Damit der Verlust immer groß und allgegenwärtig bleibt. Sie erlauben sich dann keine Veränderungen, wehren das Gute und Schöne ab und klammern sich an die Größe ihres Leids. Auf der einen Seite ist das verständlich, denn der Verlust zählt ja zum Größten, was ihnen im Leben widerfahren war. Andererseits führt so ein Weg in die Lähmung und Erstarrung. Sie fürchten, mit der Akzeptanz eines neuen Lebens würden sie den verstorbenen Menschen verraten. Als würde er ihnen damit ein weiteres Mal verloren gehen. Das Festklammern am Leid des Verlusts gibt ihnen die Gewissheit, weiterhin verbunden zu sein. Aber verbunden bist du immer! Auch dann, wenn sich viele Sedimentschichten des Lebens auf deine Erfahrung des Verlusts gelegt haben, bleibst du verbunden. Es ist ja immer alles da in dir. Und auch nach vielen Jahren scheinbar neuer Normalität ist in den Tiefen des Meeresgrundes all dein Leben bewahrt. Und manchmal tauchst du runter, weil du die alten Sedimentschichten freilegen musst, um dich zu versichern, dass alles wahr ist. Und dort triffst du deinen Schmerz, deine Sehnsucht und deine Tränen und begrüßt sie wie alte Freunde.

Alles bleibt in dir.

 
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Folge 51: Gott sei Dank, sie ist drüber weg!