Folge 50: Darf der Mensch sterben wollen

 

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Das ist die Ausgangssituation: Dein geliebter Mensch ist gestorben, und dein Leben liegt in Trümmern. Du ringst damit, zu begreifen, was passiert ist. Je mehr du verstehst, dass die verstorbene Person nie wieder zurückkehren wird, desto unerträglich ist dein Schmerz. Du bist fassungslos, und es ist, als sei ein Teil von dir mitgestorben. Du lebst, doch keinerlei Erleichterung liegt darin, dass du noch da bist. Im Gegenteil: selbst tot zu sein, wäre gut – erlöst von einer unerträglichen Gegenwart und einer hoffnungslosen Zukunft. Der Tod hat bei dir Einzug gehalten, und dein eigener Lebenswille scheint zu wanken. Wozu? Wozu weiterleben, wenn alles völlig sinnlos erscheint? Ich sehe dich an in deiner grenzenlosen Verzweiflung, und es gibt kaum ein Wort des Trostes, das dich erreichen könnte. Alle freundlichen Ermutigungen scheinen an dir abzuprallen. Also sage ich dir das, was du in dem Moment selbst empfindest: Du hast die Furcht vor deinem eigenen Ende verloren. Mehr noch: Ein Teil von dir möchte gerne „nachsterben“. Und das ist normal angesichts deines Unglücks. Die Aussicht auf den eigenen Tod gibt dir ein wenig Ruhe. Also sage ich dir: „Du darfst immer über dein Sterben nachdenken. Aber ich bitte dich, jetzt am Leben zu bleiben und dir Zeit zu geben, um herauszufinden, was dieses Leben noch sein könnte.“

Darf sich ein Mensch selbst töten? Die Frage, ob ein Mensch über das Ende seines Daseins bestimmen darf, wird seit jeher kontrovers diskutiert. In unserer christlich-abendländischen Tradition galt die Selbsttötung eines Menschen lange als inakzeptabel und wurde insbesondere mit dem Begriff der Sünde in Verbindung gebracht. Jahrhundertelang wurden „Selbstmörder“ bestraft, sie bekamen kein christliches Begräbnis und wurden nachträglich exkommuniziert. Lange Zeit galt Suizid als Straftat, was dazu führte, dass auch Menschen bestraft wurden, die versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Heute ist das anders. Das deutsche Grundgesetz sieht die Willensfreiheit als hohes Rechtsgut und räumt Menschen damit grundsätzlich auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein. Das schließt den Suizid ein. Voraussetzung dafür ist, dass der freie Wille eines Menschen nicht eingeschränkt ist. Und hier liegt das Problem: Von den rund 10.000 Menschen, die in Deutschland jährlich durch Suizid sterben, sind zum Zeitpunkt der Selbsttötung sehr viele nicht willensfrei. Die Mehrzahl von ihnen ist durch eine akute schwere psychische Beeinträchtigung nicht in der Lage, die eigene Situation und die Chancen in der Zukunft auch nur halbwegs realistisch zu sehen. Sie geraten in eine Art suizidale Trance. In dieser Blindheit fliehen sie in den Tod.

Wann sind wir frei, uns zu entscheiden? Gibt es überhaupt einen freien Willen? Hast du einen freien Willen, wenn du vor mir sitzt und darüber sprichst, dass du froh wärst, wenn auch du sterben dürftest? Es gibt darauf keine einfache Antwort. Ich höre dich und akzeptiere nicht nur deine Verzweiflung, sondern auch deine Sehnsucht nach Beendigung deines Leids. Und gleichzeitig tue ich vieles, damit du dir die Chance gibst, im Leben neue Erfahrungen zu machen. Ich wünsche mir für dich, dass Freude und Lebensmut in deinem Leben wieder Platz finden können. Ich habe bei vielen völlig verzweifelten Menschen erleben dürfen, dass sie die bleierne Schwere der Aussichtslosigkeit und Trostlosigkeit abstreifen konnten. Sie sind zurückgekehrt in die Helligkeit des Seins – manchmal vernarbt und doch bereit, sich den Möglichkeiten der Gegenwart wieder zuzuwenden. Das erscheint dir heute vielleicht weit weg oder gar unmöglich. Doch das ist der Weg, auf dem ich dich begleiten will.

Einstweilen darfst du sterben wollen. Wie sollte ich dir diesen Wunsch absprechen? Ich danke dir für deine Offenheit, dass du so ehrlich zu mir bist, und bitte dich, dennoch am Leben zu bleiben. Du hast deine Trauer zu mir getragen, zeigst mir die dunklen Kammern deines Leids. Lass uns das Licht nicht vergessen und den frischen Wind in der Morgenröte.

Du bist mir wichtig.

 
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Folge 49: Mein Weg zur Trauerbegleitung