Folge 4: Gefühle in der Trauer

 

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Nach dem Verlust eines geliebten Menschen empfinden viele zunächst eine emotionale Leere. Vielleicht hast auch du das erlebt, Diese Reaktion ist eine Art Schutzmechanismus der Seele, um dich davor zu bewahren, völlig den Halt zu verlieren. Es kann ein verwirrendes Erlebnis sein, denn rational weißt du, dass du eigentlich schreien, weinen und in tiefster Verzweiflung um dich schlagen müsstest. Stattdessen fühlst du dich ruhig und unbewegt. Erst allmählich, wenn dieser Schockzustand nachlässt, kommen deine Gefühle zum Vorschein. Dies kann manchmal Monate dauern, abhängig von der Intensität der Traumatisierung durch deinen Verlust. Wenn die Emotionen schließlich aufbrechen, kann ein Sturm aus verschiedenen Gefühlen entstehen: Traurigkeit, Verzweiflung, Sehnsucht, Schmerz, Einsamkeit, Angst, Schuld, Scham und natürlich auch Wut und Zorn. Diese Gefühle treten nicht nacheinander auf; sie sind chaotisch und durcheinander. Du liebst und bist wütend – oft gleichzeitig. Die Wut kann dich erschrecken, da du weißt, dass der verstorbene Mensch dir nicht absichtlich wehtun wollte. Dennoch kann es vorkommen, dass du voll zorniger Bitterkeit den Verstorbenen anklagst: „Warum hast du mir das angetan?“

Gefühle haben einerseits die Funktion, dich zu schützen und zu leiten; andererseits geben sie anderen Menschen wichtige Hinweise über deinen emotionalen Zustand. Angst beispielsweise schützt dich davor, dich in gefährliche Situationen zu begeben und signalisiert anderen, dass du Unterstützung benötigst. Wut ist ein universelles Gefühl, das in allen Kulturen bekannt ist. Diese Emotion schützt uns besonders dann, wenn wir uns angegriffen fühlen oder wenn jemand unsere Grenzen missachtet. Der Tod deines geliebten Menschen war möglicherweise die stärkste Missachtung deiner Grenzen, die du je erfahren hast. Daher ist es vollkommen legitim, dass du dich empörst und dein Schicksal beklagst. Der Verstorbene war ein Teil von dir, und sein Tod fühlt sich an wie ein Angriff auf das, was du für dein Leben gehalten hast. Wenn du vor mir sitzt und weinend über diese Ungerechtigkeit klagst, spüre ich all deine Wut – Wut auf das Schicksal, die Umstände, das Leben, die Ärzte, auf dich selbst und auch auf die verstorbene Person.

Viele Menschen durchleben solche Phasen der Wut; anderen mag sie fremd erscheinen. Sie kämpfen vielleicht mit sich selbst, aber Wut auf den Verstorbenen kennen sie nicht. In solchen Momenten sehen sie sich Fragen oder gar Kritik anderer ausgesetzt. Besonders wenn der Tod durch Suizid geschah: „Bist du denn gar nicht wütend auf sie? Dass sie dich so im Stich gelassen hat? Du musst doch auch mal deinen Zorn zulassen und erkennen, was sie dir angetan hat.“ Wut ist ein Gefühl, das uns abtrennt und loslöst. In der Enttäuschung einer gescheiterten Liebesbeziehung kann Wut auf den ehemaligen Partner durchaus nützlich sein; sie hilft uns, uns aus der Beziehung zu lösen. Der sogenannte „Rosenkrieg“ mag hässlich sein, aber als Katalysator der Trennung erfüllt er seinen Zweck. Nach einer Phase wütenden Zorns wird der frühere Partner allmählich gleichgültig für uns; er verschwindet nicht nur aus unserem Leben, sondern auch aus unserem Fühlen und Denken.

Diese Dynamik lässt sich jedoch nicht auf eine Trennung durch den Tod übertragen. Du kannst zeitweise wütend auf den Verstorbenen sein, doch die Liebe und Verbindung bleiben bestehen. Du wirst nicht gleichgültig ihm gegenüber; vielmehr bleibt er für den Rest deines Lebens ein innerer Gefährte.

Die Gefühle in der Trauer sind vielfältig und oft unberechenbar. Du suchst sie dir nicht aus, und manche von ihnen fordern dich heraus, sodass du vielleicht nicht gerne über sie sprichst. Doch auch wenn du sie nicht magst oder gar ablehnst, sind sie dennoch da. Wenn du den Mut aufbringst, diese Gefühle wirklich zu spüren, wirst du feststellen, wie sehr sie sich im Laufe der Zeit wandeln können. Natürlich darfst du Wut empfinden! Du darfst sogar Erleichterung verspüren, wenn du denkst, dass dein geliebter Mensch möglicherweise ein schreckliches Leid beendet hat. Auch für dich selbst darfst du erleichtert sein, dass der Schrecken ein Ende gefunden hat – selbst wenn du dich für dieses Gefühl schämst. Was auch immer du inmitten dieser verwirrenden Vielfalt an scheinbar widersprüchlichen Gefühlen erlebst, es ist Teil von dir und deiner Beziehung zum Verstorbenen.

Ich wünsche dir, dass mit der Zeit der Sturm der Gefühle abflaut. Der Schmerz wird sich verändern; manchmal bleibt er tief verborgen und für niemanden sonst sichtbar, aber er bleibt ein Teil von dir.

Er hält die Verbindung zu deinem geliebten Menschen.

 
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