Folge 24: Empathie (1)
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Unter Empathie versteht man die Fähigkeit, Gefühle, Motive und Erlebnisse anderer nachzuempfinden. Du kannst dich dann in andere Menschen einfühlen und gewissermaßen die Welt aus deren Blickwinkel erleben. Empathie ist dabei eine Fähigkeit, die keineswegs von Anfang an da ist. Als Säugling warst du vermutlich völlig empathielos gegenüber deinen ausgelaugten Eltern. Auch Kleinkinder können Egoisten par excellence sein und scheren sich wenig um die Tränen der Großen. Unser Nervensystem braucht offensichtlich erst einen gewissen Reifegrad, um fähig zu tieferer Empathie zu sein. Erst mit vier Jahren zeigen Kinder eine komplexere Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Empathie ist für uns dabei eine zentrale Bedingung für ein gelingendes Miteinander in unserem Leben. Wir wünschen uns Menschen, bei denen wir spüren, dass sie sich wirklich in uns einfühlen können.
Grenzen findet die Empathiefähigkeit bei Ereignissen, die außerhalb der eigenen Erfahrungswelt liegen. Dazu gehört der Verlust eines geliebten Menschen. Ein Gutachter, Psychiatrieprofessor, der die Therapie für eine Mutter genehmigen sollte, deren Kind tragisch verstorben war, schrieb mir, es handle sich dabei um ein „lebensübliches Ereignis“. Das zeugt von unfassbarer Empathielosigkeit, ist aber leider nicht untypisch für die Einschätzung der Mitwelt. Natürlich sind die anderen betrübt über deinen Verlust. Aber sie wissen doch nicht wirklich, was er bedeutet. Das ist auch verständlich, denn ihnen fehlt dafür schlicht das eigene Erleben. Es wäre nicht schlimm, wenn sie damit offen umgehen würden und dir direkt mitteilten, dass sie sich gar nicht vorstellen können, wie es dir gehen mag und was du durchmachst. Aber leider wissen sie nicht, dass sie keine Ahnung haben, im Gegenteil bilden sie sich ein, sie könnten deinen Schmerz nachvollziehen. „Ich weiß, wie es dir jetzt geht…“ ist ein Satz, der schnell gesagt, aber selten wahr ist. Das merkst du vor allem dann, wenn sie nach einiger Zeit ungeduldig werden, weil du aus deiner Trauer nicht rausfindest. Sie sind dann oft der Meinung, du müsstest nach vorne blicken, ohne dass sie merken, dass du erst jetzt in deiner Trauer angekommen bist.
Natürlich gibt es auch Beispiele einzelner, die in unfassbarer Weise in der Lage sind, sich in deine Situation hineinzuversetzen, obwohl sie keinen eigenen Verlust erlitten haben. Ihr kennt manche davon und es tut gut, ihr Mitgefühl zu spüren. Aber insgesamt machst du doch sehr oft die Erfahrung, dass andere weit daneben liegen, wenn es um eine Einschätzung deiner Befindlichkeit geht. Wenn du auch nach einem Jahr deinen Schmerz über den Verlust ausdrückst, dann kann es sein, dass du aufgefordert wirst, endlich loszulassen. Was genau sie damit meinen, wissen sie nicht, denn sie selbst haben ja noch nie einen Lieblingsmenschen losgelassen.
Ein weiterer Beleg für die sehr begrenzte Empathie ist die Interpretation deiner Tapferkeit. Nach einiger Zeit schaffst du es eventuell wieder in die Arbeit zu gehen. Du willst dich nicht aufgeben und kämpfst darum, diesen Bereich für dich zurückzugewinnen. Du hast dir vorgenommen, deine Wunde an diesem Ort nicht zu zeigen und manchmal lachst du sogar in der kollegialen Geselligkeit. Und anschließend sagt dir jemand, dass man merkt, dass es dir wieder besser gehe. Das ist lieb gemeint und soll ein Lob und eine Ermutigung für dich sein. Du aber bist geradezu schockiert, wie die andere Person darauf kommt. „Nun ja, du lachst wieder mit uns, man hat den Eindruck, du hättest es jetzt überwunden“. Das verletzt dich und du fühlst dich zu Recht missverstanden. Aber es ist aussichtslos, du wirst ihnen den Verlust und seine Folgen nie erklären können. Du musst lernen, diese Beurteilungen deiner Person zu ignorieren.
Ärgere dich nicht, und freue dich über die Empathie der anderen.