Folge 23: Der Himmel der Brathühner

 

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Der Tod gehört zum Leben. Andererseits unternehmen wir viele Anstrengungen, ihn zu leugnen. Wir verbannen unseren eigenen Tod so sehr aus dem Blickwinkel, dass wir uns einbilden könnten, wir lebten in einer friedlichen Welt. Blicken wir in das Tierreich, sehen wir dagegen einen steten Kampf des Überlebens. Das eigene Überleben beinhaltet dabei oft die Tötung anderer Lebewesen. Wenn wir aus dieser Perspektive das Leben betrachten, dann lautet das Motto „fressen oder gefressen werden“. Der Mensch ist zu der Gattung geworden, die frisst. Gefressen werden vor allem die anderen. Meist töten wir nicht selbst, sondern lassen töten, aber auch als Konsumenten sind wir immer Teil der Jäger.

Es ist ein biologisches Prinzip, dass alles Lebende versucht dem Tod zu entgehen. Tod ist das Ende des Lebens, er bedeutet Vernichtung und Untergang. Er macht uns Angst und wir stemmen uns dagegen. Der Tod ist daher die Geburt aller Religion, denn mit ihrer Hilfe versuchen wir der Unfassbarkeit und Bedrohlichkeit des Todes etwas entgegenzusetzen.

Als Kind war meine Welt geordnet. Meine Familie und ich waren bei den Guten, der liebe Gott schenkte uns Nahrung (z.B. ein Brathuhn) und ich glaubte an einen Himmel, in dem sich die Menschen nach dem Tod wieder begegnen. Das war ein schöner und tröstlicher Gedanke. Auch der an den lieben Gott, der einen mächtigen Bart hatte und auf alles aufpasst. Das Leben auf Erden und im Himmel schien irgendwie in Ordnung. Mit dem Ende meiner Kindheit sind die Dinge für mich komplizierter geworden. Vor allem die Unterscheidung von Gut und Böse stellte sich mit der Zeit als immer schwieriger dar. Es tat mir weh, dass ich erkennen musste, dass das Brathuhn nicht direkt von Gott stammte, sondern aus dem Mastbetrieb, und es fiel mir sehr schwer, darin Gottes Werk zu sehen. Auch zu begreifen, dass ich selbst in meinem Menschsein Teil einer gigantischen Mastfabrik bin, schmerzte mich und ließ mich zweifeln. Gibt es Gerechtigkeit? Gibt es auch einen Himmel für Brathühner? Ich schob diese Fragen jahrelang beiseite und versuchte trotzig verdrängend durchs Leben zu gehen. Wann immer ich darüber nachdachte, rieb ich mich an diesen Widersprüchen, aber ich hatte keinerlei Antwort. Die Vorstellung, dass das Leben nichts weiter wäre als ein gnadenloser Kampf, ein Survival of the Fittest, war mir zuwider. Aber wenn ich offenen Auges in die Welt blickte, sah ich klar dieses Prinzip: Fressen oder gefressen werden. Der Tod ist dein Feind.

Die Zeit hat mich gewaschen und geschliffen wie einen Stein. Die Widersprüche haben sich nicht aufgelöst. Aber – warum auch immer – ich ertrage sie heute besser. Auch meine eigene Widersprüchlichkeit. Ja, es geht immer ums Fressen und Gefressenwerden. Ja, alle schauen stets auf ihre eigenen Interessen. Ja, es ist oft brutal. Doch, es gibt Liebe, und natürlich gibt es einen Himmel für Brathühner. Wer will mir denn das Gegenteil beweisen? Die Widersprüche auszuhalten ist nicht so leicht. Sie bedeuten für mich nicht, dass es einerlei und egal ist, wie ich handele. Trotz all meiner Widersprüchlichkeit bemühe ich mich, in meinem Handeln Verantwortung zu übernehmen. Ich esse heute nur noch sehr selten Brathühner, denn es kommt mir irgendwie falsch und unnötig vor. Die Sterblichkeit des Brathuhns erinnert mich an meine eigene. Heute ist der Tod, auch mein eigener, viel näher an mein Leben gerückt. Je näher er kommt, desto mehr verliert er für mich seinen Schrecken. Er ist ja immer da, wie ein Gefährte, der stets neben uns hergeht und uns irgendwann die Hand reicht, um uns aus dem Leben zu führen. Und wenn dann alles nur biologischer Zelltod ist? Ohne Auferstehung? Wenn nichts weiter bleibt als die Verbundenheit der Kohlenstoffatome? Was für ein wunderbares Einssein läge darin!

Fast so schön wie ein Himmel für Brathühner.

 
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