Folge 22: Angst vor dem Tod (2)

 

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Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber wenn jemand nicht heimkommt, werde ich unruhig. Neulich erst wieder. Ich kam nach Hause und meine Frau war nicht da. Ich rief die Kinder und fragte, ob sie wüssten, wo sie wäre. Niemand hatte was gehört. Sie hätte längst da sein müssen. Ich schaute, ob sie eine Nachricht geschrieben hatte. Fehlanzeige. Ich versuchte, sie anzurufen, und die Mailbox meldete sich. Es beunruhigte mich, denn meine Frau ist sehr zuverlässig und sagt Bescheid, wenn sie später kommt. Die Minuten vergingen und sie kam nicht. In meinem Kopf waren lauter Kurzfilme, Fetzen aus Bildern, die ihr mit mir geteilt habt: Unfall, Ambulanz, Krankenhaus, Lebensgefahr etc. Ich hatte zu viele Geschichten gehört, als dass ich hätte ruhig bleiben können. Ich war sehr besorgt und spähte unentwegt auf die Straße. Den Kindern zeigte ich nichts von meiner Angst, stattdessen schimpfte ich leise vor mich hin. Schließlich kam sie 20 Minuten später. „Kein Akku, entschuldige“. Ich war erleichtert und wütend zugleich. „Tu das nicht mehr, bitte! Das geht bei mir nicht, das weißt du!“

Jemand kommt nicht wie erwartet nach Hause. So beginnen Geschichten, in denen der Tod auftritt. In dein Leben ist er wahrhaftig gekommen. Du hast ihn nicht gerufen. Er hat nicht behutsam angeklopft. Er ist brutal in dein Leben getreten und hat dir entrissen, was du zu besitzen glaubtest. Du wurdest gewaltsam aus dem heilen Leben herausgeschleudert und siehst die Welt um dich, die nur kurz mitleidig aufblickt, um dann weiter aufgeregt das alte Illusionstheater aufzuführen. Da gehörst du ab jetzt nicht mehr dazu. All das hinterfragt deine Haltung zur Welt, zum Leben, auch zum Tod. Du lernst schmerzhaft, viele Dinge neu zu bewerten. Was bedeutet es, wenn ein geliebter Mensch tot ist, einer, der keinesfalls hätte sterben dürfen?

Es bedeutet, sagst du mir erschüttert, dass das Schlimme immer wieder passieren kann. Dass ein weiterer wichtiger Mensch deines Lebens sterben kann. Gerne würde ich widersprechen und dir versichern, dass so etwas nie wieder passieren wird. Dass es zumindest sehr unwahrscheinlich ist. Natürlich ist es das, aber das bedeutet nichts, denn auch der vorherige Tod war unerwartet und unwahrscheinlich und ist trotzdem zu dir gekommen. Also widerspreche dir nicht, denn alles ist immer möglich. Natürlich kannst du einen weiteren geliebten Menschen verlieren! Und einigen von euch ist genau das widerfahren. Es gibt keine völlige Sicherheit. Du musst lernen, das auszuhalten, denn es gibt keine Rückkehr in das unverwundete Leben, wo es dir gelang, die Bedrohung durch den Tod zu verleugnen.

Was kann dir angesichts dieser Zumutung helfen, nicht zu resignieren und aufzugeben? Auch ohne Traumatisierung und eigenen Verlust lebe ich selbst nicht mehr in der Illusion der Sicherheit. Auch ich weiß, dass der Tod jederzeit in mein Leben treten kann. Meine eigene Antwort darauf heißt radikale Akzeptanz. Natürlich kann immer und jederzeit etwas passieren. Das ist Teil des Lebens. Radikale Akzeptanz bedeutet für mich, anzuerkennen, dass ich im schlimmsten Fall alles verlieren werde. Mein persönlicher Trost liegt darin, dass auch mein eigenes Leben begrenzt ist. Am Ende werde ich sterben, wie all die anderen vor mir. Das klingt für manche vielleicht hart und deprimierend, für mich aber birgt das Trost und Zuversicht. Ich denke, dass der eigene Tod auch für viele von euch keine Schreckensvorstellung mehr ist. Dass auch wir sterben werden, ist gar nicht schlimm. Im Gegenteil, es ist letztlich erlösend und gleichzeitig Ermutigung, die Gegenwart so gut und lebendig wie möglich zu gestalten. Das heißt nicht, dass ich in Zukunft ohne Furcht sein werde, wenn meine Frau sich verspätet, aber es bedeutet eine veränderte Haltung dem Tod gegenüber.

Der Tod ist nicht dein Feind!

 
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Folge 21: Angst vor dem Tod