Folge 25: Empathie (2)
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Nicht in jeder Situation unseres Lebens verfügen wir über das gleiche Einfühlungsvermögen. Wenn Menschen krank werden, leidet oft ihre Empathiefähigkeit. Wenn du hohes Fieber oder schreckliche Zahnschmerzen hast, sinkt dein Einfühlungsvermögen deutlich. Du bist dann so mit dir beschäftigt, dass du dich auf dein Gegenüber nicht einschwingen kann. Erst recht gilt das bei psychischen Störungen. Menschen mit Depression sind in ihrer Fähigkeit zu fühlen dramatisch eingeschränkt. Ihre ganze Gefühlswelt ist durcheinander. Sie spüren nicht nur sich selbst nicht mehr wie vorher, sondern sie verlieren auch an Fähigkeit, Gefühle anderer zu lesen, zu verstehen und nachzuempfinden. Sie sind so sehr mit sich und ihrem Leid beschäftigt, dass sie kaum mehr einen Blick für andere haben. Das ist ein zentraler Grund, warum Menschen mit Depression sehr anstrengend sein können und auf uns oft egozentrisch wirken. Das ist auch die Ursache, warum sich viele Suizidenten grußlos in den Tod verabschieden. Sie haben zu diesem Zeitpunkt krankheitsbedingt sehr wenig Einfühlung in die Situation der Angehörigen, sondern möchten nur irgendwie ihrem unerträglichen Leid entkommen. Was ihr Tod bei den anderen anrichtet, spüren sie nicht. Fragt man Menschen, die einen schweren Suizidversuch überlebt haben, im Nachhinein, ob sie denn gar nicht an ihre Liebsten gedacht hätten, dann sagen sie: „Nein, die waren für mich ganz weit weg“.
Auch nach einer traumatischen Erfahrung kann sich die Empathie verändern. Viele traumatisierte Kriegsheimkehrer wurden zu hart prügelnden Vätern Das unbearbeitete Trauma verhinderte Wärme und Einfühlungsvermögen. Die schrecklichen Kriegserinnerungen tobten in ihrem Inneren und sie waren völlig überfordert mit der Rolle des fürsorglichen Vaters. Wer stark unter der Wirkung eines Traumas steht, kann manchmal gefühllos wirken. Auch du kommst zu mir und erzählst, wie stumpf und kalt du oft bist. Bei vielen Situationen, die vor deinem Verlust Empathie in dir geweckt haben, erlebtest du dich jetzt als distanziert und gleichgültig. „Was ist nur aus mir geworden?“, fragst du mich. Deine Einfühlung hat sich verändert. Vor allem die Klagen über Kleinigkeiten kannst du nur schlecht ertragen. „Mein Kind hat den Übertritt nicht geschafft, ich habe keine Gehaltserhöhung bekommen, mein Auto muss schon wieder in die Reparatur, mein Flugzeug hatte 6 Stunden Verspätung“. Gerade dir erzählen die Menschen gerne solche Dinge, denn du weißt ja, was es heißt, wenn einem das Leben übel mitspielt. Nein, dafür hast du keine Empathie mehr, das ist wahr.
Andererseits wuchs dir ein gewaltiger Empathiemuskel! Wenn wirklich Schlimmes um dich passiert, dann kannst du plötzlich mit jeder Faser deines Körpers das Leid der Betroffenen spüren. Als dein Chef, den du kaum kennst, ein Kind verliert, bist du es, die ihm schreibt, um Mitgefühl auszudrücken. Und genau auf dich kommt er anschließend zu und dankt dir, weil er spürte, wie echt dein Mitgefühl ist. Als deine Nachbarin ihren Mann verliert, bist du es, die den Mut hat, dort zu klingeln. Als bei einem Busunglück viele Kinder sterben, weinst du in meiner Praxis, weil du weißt, was den Eltern bevorsteht. Und wenn ein Verlust in deinem Umfeld stattfindet, willst du am liebsten alle zu mir schicken. Deine Empathie rührt mich und manchmal ist sie auch gefährlich für dich. Denn überall und täglich geschieht Leid in der Welt. Du kannst es weder verhindern noch heilen. Deine eigene Wunde schmerzt noch immer so sehr, dass du dich schützen musst, um nicht jedes Mal mitgerissen zu werden. Du musst lernen abzuwägen, an welchem Punkt du dich schützt, denn du hast keinen Schutzpanzer mehr. Wenn du dich stark genug fühlst, dem Verlust der anderen näher zu kommen, dann lasse dich von deinem Mitgefühl leiten.
Deine Empathie ist für andere ein Geschenk.