Die Rehe haben Davids Rosen gefressen
von Sylvia Jung
Das Grab meiner Mutter, die vor einundreißig Jahren gestorben ist, besuche ich nie. Es ist aber auch nicht in München, sondern in einem Dorffriedhof in Oberschwaben. Ich denke aber oft an meine Mutter und habe sie und Davids Ahnen zu seinen Lebzeiten oft angefleht, zu helfen, ihm zu helfen, aus seinem Zimmer herauszugehen, leben zu wollen in dieser Welt. Dabei habe ich in den Himmel geschaut, oft in den Nachthimmel und mich gefragt ob sie mich hören, vielleicht sogar erhören.
Jetzt fahre ich oft mit dem Fahrrad zum Waldfriedhof, in den neuen Teil, um, wie ich es empfinde, David zu besuchen – in seiner neuen Wohnstatt. Ich habe den kürzesten Weg gefunden, um zu seinem Grab zu kommen, es ist auch der Schönste.
Ich fahre an gepflegten Wohnhäusern vorbei, an poetisch klingenden Straßennamen, die zuerst von Blumen sprechen und dann in Waldtöne übergehen. „Waldsaumstraße“, welch ein Glück hier zu wohnen. Vor jedem Haus stehen große Autos und ich denke an Davids Versuche, den Führerschein zu machen. Alles was ich sehe, beziehe ich auf ihn und schaffe Verbindungen. Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Vater, Mutter, Kind, Haus, Hund, Oma, Opa, Auto. Sie sind vollzählig.
Auf dem Weg durch den Friedhof gibt es Wegmarken, die mich zu Davids Grab führen. Es sind Gräber von jungen Männern, dass hat sich zufällig so ergeben. Geradeaus, dann nach links und da vorne ist das Grab von David, einem anderen David, es liegt keine Grabplatte auf dem Grab, da ist ein nachgebildeter, nachempfundener Corpus Christi, nein, ein Corpus Davidis. Ich betrachte oft das feine zur Seite geneigte Gesicht des jungen Mannes an seinem Kreuz, die vollen Haare.
Dann fahre ich weiter und komme an den Gräbern der Kleinsten vorbei, die Windräder surren und manchmal schwebt da ein aluminiumglänzender Ballon mit einer einstelligen Zahl über dem Grab. Diese Ballons sehe ich nicht gerne, ich habe meine Gründe.
Jetzt komme ich an einer duftenden Wildblumenwiese vorbei, dort rechts stehen die bunten Bienenkästen. Mein Vater, der Imker, kommt mir ins Gedächtnis und wie richtig dieser Ort für David ist.
Die letzte Einfahrt rechts und gleich links liegt Tobias, er wurde 22 Jahre alt. Manchmal ist seine Oma da, wir sind schon ins Gespräch gekommen. Letztens hat sie mich zu Davids Grab begleitet, was mich sehr berührt hat.
Davids Grab liegt ganz hinten, vor dem kleinen Wald. Ich sage mir, dass er die Bäume im Rücken hat und dadurch geschützt ist. Vielleicht gestärkt. Den Platz habe ich vor fünf Monaten mit einem jungen Mann von der Friedhofsverwaltung ausgesucht.
Gestern betrachtete ich die Bäume genauer, alle sind grün und strotzen vor Kraft. Dazwischen aber sehe ich zum ersten mal den kranken Baum, den grauen Baum.
Davids Platz ist nicht in der ersten Reihe wo ihn die gleißende Sonne im Sommer stören würde. Sein Platz ist ein Spiel von Licht und Schatten. Sonnenstrahlen fallen als Lichttupfer auf das Namensschild, sie markieren manchmal das Datum seiner Geburt und manchmal das Datum seines Todes. Sein Tod hat ein Datum.
Ich bin ein Friedhofsneuling. Vor drei Monaten hatte ich zwei Frühlingsblumentöpfchen vor das schlichte Holzkreuz gestellt. Am nächsten Tag wollte ich sie gießen, aber sie waren weg. Das hat mich sehr aufgewühlt und ich habe anderen Friedhofsbesuchern erzählt, was passiert ist. Sie meinten, dass sei ganz normal und käme immer wieder vor.
Nicht einmal hier bist du sicher, denke ich. Meine Nichte bringt ihm ein schönes Osterblumengesteck, das sie in in einen massiven Blecheimer gepflanzt hat und bringt daran ein kleines Papierherz an mit der Aufschrift „für David“. Sie hofft, damit Blumendiebe abzuhalten.
Gestern war ich wieder dort, um David frische, neue Blumen zu bringen. Die farbenfrohen Rosen, die ich ihm vor einer Woche gebracht hatte, waren sicher nicht mehr schön. Aber diese Rosen lagen jetzt überall vor seiner kleinen Grabstätte verstreut herum. Mir kamen die Tränen. Da war ein Friedhofsgärtner, den ich fragte, ob das oft vorkomme. Er sagte, dass seien die Rehe, er habe selber schon gesehen wie sie Rosen fressen. Sofort war ich beruhigt, denn Rehen trage ich nichts nach.
Ich denke mir, dass es David auch nicht gestört hätte, vielleicht hätte er geschmunzelt und gemeint, dass sei doch ganz gut so, denn Schnittblumen habe er sowieso nie gemocht.