Folge 16: Trage tapfer deine Schuld

 

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Wenn ein geliebter Mensch stirbt, fragen sich viele, was sie falsch gemacht haben, dass sie so bestraft werden. Oft stellt sich zumindest kurzfristig die Frage nach der eigenen Schuld. Als wäre der Verlust die Folge einer Verfehlung. Bei manchen löst sich die Frage nach der persönlichen Verantwortlichkeit nach einiger Zeit auf. Bei anderen bleibt sie bestehen, manchmal auch über Jahre. Besonders gilt das dann, wenn das Kind oder der Partner durch Suizid gestorben sind, wenn also ein Mensch durch eigenes Handeln zu Tode gekommen ist.

Im Laufe meiner Arbeit als Therapeut und Supervisor sind mir einige Menschen begegnet, die schwere Schuld auf sich geladen haben. Weil sie einen Menschen gezielt getötet haben oder den Tod eines anderen Menschen verursacht haben (z.B. tödlicher Verkehrsunfall). Diese Menschen hatten alle etwas gemeinsam: sie hatten keine Schuldgefühle. Sie hatten dafür keinen Zugang und sie konnten kaum nachvollziehen, warum die anderen bei ihnen schwere Schuld sahen. Sie hatten offensichtlich Schlechtes getan, aber ihr persönlicher Eindruck war, dass sie da unglücklich in etwas reingeraten waren, wofür sie im Grund nichts konnten. Es war nun einfach blöd gelaufen. Bei den Menschen, die in meine Praxis kommen, auch bei denen, die jemanden durch Suizid verloren haben, finde ich dagegen keinen Anhaltspunkt, wo sie Schuld hätten. Und trotzdem sind sie es, die sich paradoxerweise schuldiger fühlen als veritable Verbrecher. Schuldgefühle sind äußerst hartnäckig und entziehen sich meist rationalen Argumenten. Du fühlst dich einfach schuldig.

Wenn du mit mir über deine Schuld gesprochen hast, dann weißt du, dass ich dich nicht für schuldig halte, aber auch meine Einschätzung kann dich nicht erreichen. Du fühlst dich schuldig und schlecht, weil du es nicht verhindern konntest. Verhindern, dass der geliebte Mensch stirbt. Vielleicht hättest du dich noch mehr anstrengen müssen, noch intensiver nach Lösungen Ausschau halten müssen. Du hättest noch vehementer kämpfen müssen. Du hättest es sehen kommen können. Du hättest es spüren müssen, denn schließlich warst du näher dran als alle anderen. Du hättest es in seinem Gesicht, in seinen Blicken lesen können: wie sehr er mit dem Leben rang. Dass er in Lebensgefahr war und man sofort hätte handeln müssen. Du haderst mit dir, weil du es nicht hast kommen sehen. Auch wenn du dich gesorgt hast, auch wenn du eine Gefahr ahntest, hast du doch nicht vorhergesehen, dass die geliebte Person zum damaligen Zeitpunkt so aus dem Leben gehen würde, verlassen von dir und der Welt. Als hättest du sie verraten.

Es tut mir weh, wenn ich dich so sprechen höre, denn du tust dir unrecht. Bei allen anderen erkennst du, dass sie keine Schuld tragen, dass sie selbst Opfer geworden sind. Alle sprecht ihr frei von Schuld, alle außer euch selbst. Ich werde nicht aufhören, dir zu widersprechen, aber meine Erfahrung sagt mir, dass ich dein Schulderleben wenig beeinflussen kann. Die Schuldgefühle kommen in Wellen. Ich musste lernen auszuhalten, dass ich dich davor nicht bewahren kann. Du bist eingeflochten in das Leben des gestorbenen Menschen. Du warst Teil von ihm, er Teil von dir. Daher bist du auch Teil seines Sterbens. Das hat du nicht gewählt oder gewollt, aber trotzdem ist es passiert: Die Person ist gestorben und du konntest es nicht verhindern. Wenn ich deine Schuldgefühle schon nicht beenden kann, dann sage ich dir: Trage tapfer deine Schuld und lerne zu spüren, wie sehr dir längst verziehen wurde, für alles. Aber wirst du auch dir selbst verzeihen? Und du auch ihm, dem verstorbenen Menschen? Probiere es einfach aus und sprich es laut aus:

Ich verzeihe dir. Und ich bitte dich, verzeih mir.

 
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