Folge 27: Dankbarkeit
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Dankbare Menschen sind glücklicher, weniger depressiv, leiden weniger unter Stress und sind zufriedener mit ihrem Leben und ihren sozialen Beziehungen. Dankbarkeit kann man in Bezug auf einzelne Menschen empfinden, die in bestimmten Augenblicken für einen da waren. Aber Dankbarkeit in Bezug auf das ganze Leben? Ist das überhaupt möglich? Wenn ein alter Mensch stirbt und die Jahrzehnte dauernde Liebe damit verlässt, dann finden viele, der zurückbleibende Mensch sollte dankbar sein für all die Jahre, die er in Zweisamkeit verbringen durfte. Man kann das leicht fordern, wenn man selbst von dieser Lebenssituation weit entfernt ist. Der alleingelassene alte Mensch erlebt seine Lage kaum besser als ein jüngerer Mensch, der die große Liebe verliert. Im Gegenteil: sind wir jünger, dann haben wir eine gute Chance noch einmal eine Liebe zu finden. Ein alter Mensch fällt dagegen in große Einsamkeit und Monotonie. Trotzdem erwartet man von ihm Dankbarkeit.
Auch von dir erwarten manche Dankbarkeit. Denn du bist ja noch da, du hast eine Hütte über dem Kopf und hungerst nicht. Du hast noch Menschen um dich, denen du wichtig bist. Also versuche dankbar zu sein. Finden die anderen. Aber Dankbarkeit ist ein schwieriges Thema. Natürlich wissen wir alle, dass Dankbarkeit gut ist. Aber dein Leben beinhaltet nun mal ein ungeheuer schmerzhaftes Ereignis, das deine Existenz in Trümmer zerlegt hat. Ein zentraler Mensch deines Lebens fehlt. Jemand, der dir sehr viel bedeutet hat, ist gestorben und kommt nicht wieder. Wie kannst du da Dankbarkeit entwickeln angesichts deiner Geschichte? Du bist ehrlich zu mir und sagst es direkt, wie schwer du dir tust mit dem Postulat der Dankbarkeit. Für dich ist es eine Zumutung, auch wenn die andern es so nicht meinen. Danke, dass mein Kind starb, dass mein geliebter Partner von mir ging, danke für diesen Scheiß-Krebs, danke für all die Qual, die wir erleiden mussten. Danke, dass niemand kam, der Rettung gebracht hätte. Danke für meinen Schmerz, danke für meine Einsamkeit, danke dafür, dass alle anderen leben, während zu mir der Tod kam…. Nein, dafür wirst du niemals Dankbarkeit entwickeln können.
Ich will dir sagen, wann ich deine Dankbarkeit spüre. Wenn du von deinem Kind oder Partner erzählst. Von guten und schönen Erinnerungen, aber auch von schmerzhaften, die du zu mir trägst. Auch wenn du in deinen Träumen besucht wirst und mir davon erzählst, spüre ich deine Dankbarkeit. Und in deinem Erzählen verändert sich plötzlich die Gegenwart, denn du spürst die Person über alle Zeit hinweg jetzt in dir. Du nimmst etwas wahr und in schmerzender Schärfe birgst du das Bild mit deinen Worten. Und ich spüre, dass du es spürst und bin ergriffen davon und sage es dir. Du lächelst mich an und weinst gleichzeitig. Es ist schön, es ist groß, es ist schmerzhaft, es ist schwer auszuhalten. Das sind Momente, in denen ich dich dankbar erlebe.
Und dann erlebe ich dich mit den anderen Menschen bei VIVAS. Im Englischen nennt man sie SURVIVORS, Überlebende. Das klingt dramatisch, scheint mir aber eine stimmige Bezeichnung für Menschen, die einen so schweren Verlust überlebt haben. Du kommst in den Raum, siehst die anderen, dein Gesicht verändert sich und etwas in dir beginnt zu strahlen. Ihr geht aufeinander zu und umarmt euch. Und zwischen euch ist so viel Herzlichkeit. In diesem Miteinander, in dieser Gemeinsamkeit erlebe ich deine Dankbarkeit. Jeder sieht sie dir an. Dabei entspringen diese wertvollen Momente letztlich deinem Verlust: ohne den Tod deines geliebten Menschen hättest du die anderen nie getroffen, wärst du nie Teil dieser Gemeinschaft geworden. Das ist eine der Paradoxien, die wir nicht auflösen können. Wie eng hier das Schreckliche mit dem Schönen verbunden ist.
Eines will ich nicht vergessen, dir zu sagen: ich bin dankbar, dir zu begegnen!